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Forum Nord Spiritualität und Sucht

Schnecke

Zwölf Thesen und Leitsätze für ein ganzheitlich und
integral orientiertes Heilungs- und Genesungskonzept in der Suchthilfe

von Stephan Hachtmann, © 2018

... es ist zu spät, um pessimistisch zu sein ... Credo des Films Home
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In einer Zeit lebend, in der fundamentale Konflikte in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten und globale Herausforderungen zur Mitverantwortung geradezu einladen, erscheint in der Zuspitzung dieser Verhältnisse das Ende des bestehenden Paradigmas zu nahen. Hoffnungsvolle vorsichtige Anzeichen eines Neuanfangs werden am Horizont immer deutlicher sichtbar und scheinen auf einen fundamentalen sozio/kulturellen Wandel hinzuweisen. In vielen Bereichen scheint sich Grundsätzliches zu verschieben und nicht mehr gangbar zu sein, währendessen etwas anderes geboren werden will, wie es der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel in einer Rede in  Philadelphia am 4. Juli 1994 fast visionär beschwor. Er sagte: „Ich denke, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das moderne Zeitalter zu Ende geht. Es gibt heutzutage viele Hinweise darauf, dass wir uns in einem Übergangsstadium befinden, es sieht so aus, als ob etwas auf dem Weg hinaus ist und als ob etwas anderes unter Schmerzen geboren wird. Es ist so, als ob etwas taumelt, schwankt, schwindet und sich selbst erschöpft – während sich etwas anderes, noch Unbestimmtes, langsam beginnt aus den Trümmern zu erheben.“ Dem ermutigenden Geiste dieser Vision folgend, mögen die aufgeführten Thesen als ein bescheidener Beitrag aus der Perspektive der Suchtgenesung verstanden sein.

1.    Neues Bewusstsein
Eine integral spirituelle Perspektive orientiert sich am Kontext einer sich gegenwärtig artikulierenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Ein spirituell/integrales Heilungs- und Genesungskonzept ist Ausdruck eines sich neu formierenden Bewusstseins, das sich im Individuum und in der Gesellschaft abzeichnet. Dieses Bewusstsein reagiert auf einen sich momentan vollziehenden grundlegenden Werte- und Perspektivwechsel, als Folge zunehmender und in der ganzen Gesellschaft immer sichtbarer werdender seelischer und psychischer Krise.

2.     Motor in einem dynamischen Wandlungsprozess
Eine integral spirituelle Perspektive setzt sich zum Ziel Verantwortung für die Möglichkeit eines Wandels im singulären und kollektiven Bewusstsein zu übernehmen. Für das Suchthilfesystem bedeutet dieses zunächst, dass es sich als integraler Bestandteil der beschriebenen Entwicklung erkennt, Entwicklungen vorbildhaft aufgreift und Offenheit bewahrt, um in der eigenen Einrichtung/im eigenen System, vorhandene Erkenntnisse und Konzeptionen zur Erprobung und zur Anwendung zu bringen.

3.     Potentialorientierung
Eine integral spirituelle Perspektive dient der Wahrnehmung und Freilegung des innewohnenden menschlichen Potentials unter Berücksichtigung seiner physisch-biologischen, mental-psychischen, sozio-kulturellen und religiös-spirituellen Dimensionalität. Basierend auf einer „Ökonomie der Talente“ (vgl. „Der neue Mensch steht weder rechts noch links - er geht“, Manifest von Herbert Meier, Zürich 1969), der individuellen Fähigkeiten/Begabungen oder Ressourcen, wird dem Klienten ein salutogener Entwicklungs- und Lernraum angeboten, in dem er ein Bewusstsein für und einen Zugang zu diesen Kraftquellen erhält. Die Erkenntnis einer in jedem menschlichen Wesen innerwohnenden Kostbarkeit, Einzigartigkeit, Größe und Würde, stellt dabei die Grundlage dieses Zieles dar.

4.     Räume zum Füllen
Eine integral spirituelle Perspektive gründet sich auf einem neuen salutogenetischen Ansatz zur Bildung von Gesundheit, Wachstum und Heilung. Das für die spirituelle Dimension offene Beratungs- und Behandlungssetting basiert auf einer salutogenen Perspektive und Grundhaltung, unter Einbeziehung der Ergebnisse aus der Resilienzforschung. Die Mitarbeitenden wissen um die Erkenntnisse zur Neuroplastizität (Formbarkeit des Gehirns), den positiven Wirkungen des Achtsamkeitstraining (MBSR), sie sind über die Grundlagen des integralen Modells nach Ken Wilber informiert, betrachten Sucht nicht pathologisch und geben der Anwendung und Entwicklung des menschlichen Willens eine größere Bedeutung (Vertrauen in Selbstheilungspotentiale als Grundlage eines Genesungsprozesses).

5.     Entfaltung einer Herzenskultur
Eine integral spirituelle Perspektive ist damit ein inneres und äußeres Lern- und Entwicklungsfeld zur Entfaltung einer Kultur des Herzens. Achtsames Lernen,  alters- und konfessionsfreie Weisheitsschulung (didaktisch und methodisch dem jeweiligen Bildungshintergrund und der jeweiligen Aufnahmefähigkeit entsprechend) sowie herzensbildende Inhalte und Zusammenhänge bilden die Grundlage und den Hintergrund. Diese Inhalte werden kognitiv erfassbar und mental nachvollziehbar unter Einbeziehung aller zur Verfügung stehenden medialen Möglichkeiten dargestellt und vermittelt. Die umfassenden Förderung einer gesellschaftlich wirksamen Herzenskultur und Herzensbildung erfordert den aufmerksamen und bescheidenen Geist einer interkulturellen und intersprituellen Offenheit auf der Grundlage einer Etik der Wertschätzung, des Respektes und des grundsätzlichen Wohlwollens allem Leben gegenüber.

6.     Heiligung des Alltags
Eine integral spirituelle Perspektive übt sich in einer spirituell/integralen Lebensgestaltung. Sie ist damit  Ausdruck einer ganzheitlichen Lebenshaltung und bezieht sich auf den Alltag (beruflich) und die eigene spirituelle Praxis (privat). Spirituell/integrale Lebenspraxis umfasst den Bereich Körper, Psyche, Selbst, soziales Umfeld und erwirbt sich Fähigkeiten, um die schrittweise Integration der Schattenanteile des Bewusstseins im Sinne einer Ganzwerdung (Individuation) zu ermöglichen. Methodisch bedient sich diese Lebensgestaltung der vielfältiger Techniken und Methoden aus den unterschiedlichsten Traditionen und Weisheitswegen und reicht von gesunder Ernährung, körperlicher Aktivität, therapeutischer Intervention bis zu hin zu Meditation oder anderen vergleichbaren Instrumenten zur Bewusstseinsentwicklung

7.     Begleitung
Eine integral spirituelle Perspektive passt sich dem Wandel der Rolle des Therapeuten/Beraters gegenüber dem Klienten/Patienten an. Die Arbeitshaltung geht über das mess- und dokumentierbare Qualitätsbewusstsein hinaus. Der professionelle Umgang mit Klienten und Ressourcen wird von einer Haltung die Mitgefühl, Aufmerksamkeit, Dankbarkeit, Intuition, Respekt und Wohlwollen ausdrückt, getragen. Aus einer integral/spirituellen Perspektive gewinnt das eigene Handeln als Helfer/in eine neue Bedeutung. Der/die Helfende erkennt sich in einer sich gegenseitig befruchtenden Situation, in  der er/sie sich mehrperspektivisch und wohlwollend dem Anliegen des Gegenübers öffnen kann und dabei gleichzeitig aus dem entstehenden Prozess bereichert und mit Wissen beschenkt hervorgeht. Jede Beziehung/Erfahrung eröffnet ein Wachstums- und Entwicklungsfeld für beide Seiten. Grundhaltung ist der authentische und respektvolle Umgang mit sich und dem Gegenüber. Eine regelmäßige eigene spirituelle Praxis ist Grundvoraussetzung, um die erwünschten Genesungsprozesse begleiten und einleiten zu können. „Dienen ist das schnellste Gefährt zur Erleuchtung.“ (Ram Dass) Der Sinn von Arbeit kann dadurch neuen sinnhaften Stellenwert bekommen.

8.     Wahren was ist
Eine integral spirituelle Perspektive wird unter anderem geschult durch die Praxis der Meditation. Neben anderen transformativen Techniken, bietet sich Meditation seit Jahrtausenden in den verschiedenen Kulturen und Religionen als ein kraftvolles Instrumentarium zur Entfaltung und Realisation von Bewusstseinserforschung, Bewusstseinstransformation, Bewusstseinsharmonisierung und Selbsterkenntnis an. Meditation ist durch ihre kulturelle Verankerung damit Garant und sicheres Fundament und hat sich als eine alltägliche Praxis auf einem Ganzwerdungs und Genesungsweg über Jahrhunderte bewährt. Meditation ist eine sorgfältige und gründliche Schulung zur Entfaltung spiritueller Weisheit. Durch Meditation wird der  Respekt sich selbst, dem Nächsten, der Welt und der Einheit (Gott) gegenüber geschult und entwickelt. In der Meditation können sich Mitgefühl und verantwortliches Handeln entwickeln. Meditation ermöglicht die Erfahrung außergewöhnlicher transrationaler und transpersonaler Zustände. Zahlreiche neueste Forschungsergebnisse bestätigen die nachhaltigen Wirkungen auf das ganzheitliche Wohlbefinden und das emotionale und kognitive Verhalten des Menschen.

9.     Vernetztes Wachstum
Eine integral spirituelle Perspektive geschieht mit dem Anliegen zur Entfaltung eines neuen Bewusstseins im Selbst und in der Gesellschaft. Es wird ein gesellschaftlich wirksamer Dialog angeregt, der die Kooperation und Vernetzung mit ähnlich arbeitenden Menschen/Organisationen und Initiativen fördert. Dabei bleibt die Bedeutung des individuell/subjektiven, des körperlich/materiellen, des kulturell/kollektiven sowie des systemisch/gesellschaftlichen Kontextes aus einer spirituellen Perspektive mit im Blick (vgl. Vier-Quadranten-Modell nach Ken Wilber, „Spiral Dynamics“ von Don Beck und Chris Cowan oder auch die Neuerscheinung von Küstenmacher/Haberer „Gott 9.0 - Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird“).

10.     Kreativ/schöpferischer Ausdruck
Eine integral spirituelle Perspektive versteht sich als kreativer Prozess zur Gestaltung der jeweiligen  Einrichtung als Gesundheitsort zu Heilung und als Ausdruck einer menschlich/ spirituellen und auf Achtsamkeit basierten Grundhaltung des gesamten Teams und seinem Gegenüber. Die Einrichtungen drücken in ihrem Umgang mit Mitarbeitenden, Klienten und Räumen diese Haltung aus. Getragen von Offenheit, Kreativität und Freiheit kann sich in ihnen das ganze Spektrum der Gestaltungsmöglichkeiten und Umgangsformen ausdrücken. Die Sorgfalt in der äußeren Gestaltung der Einrichtungen sollte diesen ästhetisch/ganzheitlichen Zugang ausdrücken.

11.     Entwicklungslinien
Eine integral spirituelle Perspektive ermöglicht die Gewinnung von nachhaltig wirkenden Fähigkeiten zu persönlichem Wachstum und Entwicklung des Selbst in einzelnen Aspekten der Persönlichkeit. Basierend auf den Erkenntnissen zur Möglichkeit der Entwicklung von Intelligenz in verschiedenen Teilaspekten einer Persönlichkeit (der sogenannten multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner), wird eine gleichmäßige Entwicklung in diesen einzelnen Bereichen angeregt und angestrebt. Diese Entwicklungslinien reichen von kognitiver Intelligenz, emotionaler Intelligenz, kinästhetischer Intelligenz, spiritueller Intelligenz und sozialer Intelligenz bis hin zu interpersonaler Intelligenz oder intrapersonaler Intelligenz. Die Entwicklung dieser verschiedenen Aspekte in einer Persönlichkeit, kann die Fähigkeit zu Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fördern. Dies sind Fähigkeiten, die der Einübung in Lebens- und Verhaltensformen dienen, die durch ein Leben im Jetzt (Gegenwärtigkeit), Wohlwollen und Respekt sich selbst und dem Anderen gegenüber, Weisheit, Konzentration und mehrperspektivischer Empathie geprägt sind.

12.     Ethische Konsequenz
Eine integral spirituelle Perspektive übernimmt Verantwortung für die Entwicklungen in der Gesellschaft indem es sich zu einer ethisch handelnden Haltung bekennt und daraus folgende Konsequenzen erkennt und mitträgt. Die Mitarbeitenden sind sich einer neuen globalen und ganzheitlichen Verantwortung bewusst, die von Selbsterkenntnis, Weltoffenheit und Weltbezogenheit getragen wird. Der/die Nächste wird als ein „Ich im Du“ anerkannt (Erfahrung von Ganzheit/Einheit), dieses Handeln ist politisch/gesellschaftlich engagiert und wirkt gestaltend auf dringend überfällige transformative kulturelle Entwicklungen ein, die sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Ökologie, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit bereits abzeichnen.

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